Ein Romandebüt mit 95? Das ist möglich! Karla Schmidt erzählt uns, wie sie Ingeborg Steinborn zu einer späten, aber glücklich ersten Veröffentlichung helfen konnte.
Bei unserem ersten Gespräch am Telefon hatte ich Frau Steinborn auf gute 60 geschätzt. Sie suchte nach jemandem, der ihr zeigen konnte, wie man Geschichten schreibt. Als ich ihr kurz darauf das erste Mal begegnet bin, erfuhr ich, dass sie bereits über 90 ist.
Zum Schreiben kam Ingeborg Steinborn ursprünglich durch ihren Enkel. Er wollte von ihr, als eine der letzten Zeitzeuginnen, mehr darüber wissen, wie es war, während der Nazizeit aufzuwachsen. Er ließ nicht locker und schließlich schrieb Frau Steinborn ihre Biografie nieder, ließ sie binden und verteilte sie an ihre Familie. Damit war es aber noch nicht vorbei. Es fing eigentlich gerade erst an.
Frau Steinborns Lebensgeschichte bringt einen nicht unbedingt auf den Gedanken, dass sie je ein Buch schreiben würde. Mit 14 verließ sie mit einem Volksschulabschluss die Schule, in Rechtschreibung war sie nicht sehr bewandert. Sie sei viel zu verträumt, sagten die Lehrer. Danach war sie auf der Hauswirtschaftsschule und musste anschließend ihr sogenanntes Pflichtjahr auf einem Bauernhof machen. Sie heiratete jung und war dann für den größeren Teil ihres Lebens vor allem Hausfrau und Mutter – wie es sich für Frauen ihrer Generation gehörte.
Wie für viele Frauen ihrer Generation war auch für sie der Tod ihres Mannes nicht ausschließlich ein tragisches Ende, sondern auch ein Neuanfang: Frau Steinborn fing an, nachzuholen, was bis dahin nicht in Frage gekommen war. Nach der Wende ging sie auf Reisen, verliebte sich noch einmal neu und wurde mit den Jahren immer wissbegieriger. Sie fing an, bei einem Stadtteilmagazin mitzuarbeiten, und Berichte, Interviews und kurze Geschichten zu schreiben. Als ihr das nicht mehr genügte, belegte sie einen Onlineschreibkurs, in dem sie lernte mit Kurztexten in knapper und dichter Form auf den Punkt zu bringen, was sie sagen will.
Als ich sie kennenlernte, hatte sie dieses Verdichten und Verknappen so sehr verinnerlicht, dass wir erst einmal damit anfingen, wieder mehr ins Detail zu gehen und bei den Figuren zu bleiben, damit Leser ihre Geschichten miterleben konnten.
Dann kam der Moment, als Frau Steinborn sagte: „Ich habe etwas im Fernsehen gesehen, über ein Flugzeug, das verschwunden ist. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen – man müsste wirklich einen Roman daraus machen!“ Es sollte ein Abenteuerroman werden. Möglichst spannend. Mit großem Figurenarsenal und weltumspannenden Ereignissen. Da war Frau Steinborn 93 Jahre alt.
Ich muss zugeben, ich fand, dass sie sich damit vielleicht zu viel vornimmt. Es ist etwas ganz anderes, ob man Betrachtungen und Kurzgeschichten oder einen Roman schreibt, erst recht, wenn man mit mehreren Handlungssträngen jongliert. Man muss dabei so viel im Gedächtnis behalten, die Logik im Blick haben und viele kleine Spannungsbögen ineinander schachteln. Das ist für jeden eine Herausforderung, der das zum ersten Mal macht, egal in welchem Alter. Aber wer bin ich, jemanden in seinem Schaffensdrang zu bremsen?
Während der Planungs- und Schreibphase war es dann vor allem Frau Steinborn selbst, die typische Zweifel äußerte: Was bilde ich mir eigentlich ein? Ich kann das doch nie! Und: Werden die Leute nicht denken, die spinnt doch, die Alte?
Nach einem guten Jahr war der Roman fertig. Einen Verlag zu suchen ist mühsam und Verlagsmühlen mahlen langsam. Es hätten durchaus weitere Jahre bis zu einer Veröffentlichung vergehen können. Obwohl man natürlich nie weiß, wie viel Zeit einem bleibt, liegt der Gedanke, dass man sein Romandebüt gern noch miterleben würde, mit 95 Jahren sicher näher. Der schnelle Weg des Self Publishing war also der beste.
Testflug 187 vermisst ist ein vorwärts erzählter und auf Abenteuer konzentrierter Katastrophenroman. Die Piloten Volker und Sebastian verschwinden spurlos bei einem Testflug mit einem neu entwickelten Flugzeugantrieb. Ihre Frauen sind außer sich vor Sorge. Zugleich schlägt ein Meteorit in der Arktis ein und löst Flutwellen aus. Gerlinde und Sara fliehen vor dem Wasser und machen sich auf eigene Faust auf die Suche nach ihren Männern. Währenddessen entdeckt ein Flugzeugingenieur, dass es hier um weit mehr geht als um das Leben der Piloten – tatsächlich steht die Zukunft auf dem Spiel.
Man spürt in Testflug 187 vermisst Ingeborg Steinborns eigenen Abenteuergeist und ihre Neugier. Falls ich je ein so hohes Alter erreiche, möchte ich genauso mutig und offen sein! Ich weiß im Übrigen auch, dass sie schon wieder etwas Neues plant…
Ingeborg Steinborn wurde 1922 in Berlin geboren, hat jung geheiratet und die ersten zwei Drittel ihres Lebens überwiegend als Hausfrau verbracht. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie erst mit 84 Jahren. Testflug 187 vermisst ist ihr erster Roman.
Karla Schmidt ist Autorin und Entwicklungslektorin für Verlage und Self Publisher und entwirft Unterrichtsmaterialien für die „Schule des Schreibens“. Mehr unter www.karla-schmidt.de
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